Das Genie in Wissenschaft und Kunst

Dr. Heiner Eckert
Vortrag auf dem Ugi-Symposium »Multikomponenten-Reaktionen« am 22.9.1995 in TU München anlässlich des 65. Geburtstags von Professor Dr. Ivar Ugi (5. September 1930 – 29. September 2005).

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Anhand ausgewählter Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst wird gezeigt, was »Genies« im Allgemeinen ausmacht. Daraus wird eine kurze Theorie des »Genies« entwickelt, die sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die signifikanten Unterschiede zwischen Künstlern und Wissenschaftlern herausarbeitet. Die Geschwindigkeit der Ereignisverarbeitung im menschlichen Gehirn spielt dabei die entscheidende Rolle.

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

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Vier Töne, ein Thema: B-A-C-H, hier stehen die Buchstaben und ihre Reihenfolge für die Tonfolge einer Melodie. Kein geringerer als Johann Sebastian Bach selbst vertonte da seinen eigenen Namen. Zu finden ist das B-A-C-H-Thema gegen Ende seiner »Kunst der Fuge« [1] und in der Fuge Nr. 4 aus dem »Wohltemperierten Klavier 1. Teil«. Mit letzterem setzte Bach schon damals die noch heute gebräuchliche Stimmung der Tasteninstrumente durch. Da die führenden Instrumentenbauer auf der alten (mitteltönigen) Stimmung verharrten, ging Bach zum Frontalangriff über. Er spielte auf einer Orgel des berühmten Gottfried Silbermann ein Stück in H-Dur (mit 5 Kreuzen), was in mitteltöniger Stimmung der sogenannten »Wolfsquinten« wegen schrecklich klingt, worauf Silbermann in einem Wutanfall Bach die Perücke vom Kopf riss [2].
02-500px-B-a-c-h.svg1Mit Vorliebe wählte Bach die strenge Kompositionsform der Fuge, die sich durch ein Höchstmaß an Logik des Aufbaus auszeichnet. Hier feiert Bach wahre musikalische Orgien, indem er entzückende Melodien in einem Feuerwerk mathematischer Operationen aufgehen lässt, das Genie der Perfektion.

Leonardo da Vinci (1452-1519)

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Der geniale Kontrapunkt zum Perfektionisten Bach ist das Universalgenie Leonardo da Vinci. Er ist Maler, Architekt, Ingenieur, Naturwissenschaftler und Erfinder zugleich.
Seinen berühmten Gemälden kommt Vollkommenheitsgrad zu. In der »Verkündigung« sieht man deutlich, dass Leonardo die Zentralperspektive beherrschte.

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Zukunftsweisend waren auch seine Erfindungen. Seine Kanone mit Schrapnell-Bomben ist eine höllisch gute Erfindung. Leonardo beschreibt sie selbst als »die tödlichste Maschine, die es gibt […] die Kugel im Zentrum birst, sie verstreut die anderen, die sofort, in der Zeitspanne eines Ave Maria, feuern« [3a]. Eine Besonderheit mechanischen Antriebs, das Schneckengetriebe, ist von Leonardo erstaunlich exakt gedanklich erfunden worden, erst im 18. Jahrhundert wurde es schließlich gebaut [3b]. Ja, sogar das zeitgenössische Fahrrad mit Kettenantrieb soll Leonardo ziemlich detailgetreu vorausgesehen haben [4].
Diese ungeheur05-Leonardo_Folio_133v_Bicycle.1e Bandbreite, vom genialen Künstler bis zum genialen Techniker, ist auf der Erde einmalig geblieben, Leonardo da Vinci ist das Universalgenie.

 

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)

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Ein ähnlicher genialer Typus wie Leonardo da Vinci, jedoch von der Seite der Wissenschaft kommend, ist das Multigenie Gottfried Wilhelm Leibniz.
Er studierte an seinem Geburts- und Heimatort Leipzig Jura, Naturwissenschaften, Philosophie und in Jena Mathematik. Zwanzigjährig promovierte er in Jura und lehnte sogleich den Ruf zur Professur ab. Alsbald wurde er Rat am Revisionsgericht in Mainz [5a]. Schon hier erkennt man, dass Leibniz keine planvolle Karriere anstrebte; der pralle Geist bricht, stets mit voller Intensität, immer wieder aus alten in neue Tätigkeitsbereiche aus und ein, das Genie der Vielseitigkeit und Energie.
So unternahm er, das Kind des späten 30jährigen Krieges, den gewaltigen Versuch, die Wiedervereinigung der beiden christlichen Konfessionen zu vermitteln, was weder ihm noch jemandem sonst danach gelang [6a].
Leibniz ist der Protagonist unserer modernen Wissenschaften. In der Mathematik entwickelte er die Infinitesimalrechnung [7a], von ihm stammt unser heutiges Integral-Symbol [7b]; außerdem bereitete er das Zahlensystem vor, auf das moderne Elektronenrechner angewiesen sind. Dazu Leibniz: »Die binäre Charakteristik ist vollkommener, als die dezimale oder jede beliebige andere« [6b, 8a]. So baute er eine Rechenmaschine [7c, 8b], die er in kleiner Auflage an Finanzbehörden verkaufen konnte.
09-Leibnitz-Integral-large-a.2Der Philosoph Leibniz schuf mit seiner Monadologie [5b, 9a, 10, 11] bereits damals einen Denkansatz, der gut 200 Jahre später in der modernen Physik von Einstein wieder aufgegriffen wurde – die Vorstellung nämlich, dass Seins-Einheiten (die Monaden) ohne gegenseitige Einflussnahme (in der prästabilierten Harmonie) harmonieren und somit jede einzelne einen Spiegel des gesamten Universums darstellt.

10-Leibniz_binary_system_1697.2Leibniz kennt keine Grenzen, denkt groß: Er strebt mit Beteiligung der bedeutendsten Wissenschaftler weltweit die Universalakademie an, bis hin nach China [6c]. Dafür war die Zeit allerdings nicht reif, immerhin gelang ihm die Gründung der Akademie der Wissenschaften in Berlin, später die der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Auch die Gründung weiterer Akademien in Petersburg und Wien regte er an. Die erste deutsche wissenschaftliche Zeitschrift »Acta Eruditorum« wurde 1682 herausgegeben – selbstverständlich von Leibniz [5c]. In seinen letzten Lebensjahren wird er mit Ehrungen und Auszeichnungen überhäuft, er wird sogar Reichsfreiherr. Doch bei seinem Begräbnis hält sich sein Arbeitgeber, der Hof von Hannover, fern [9b] – die logische Parallele zum Genie Mozart.

 

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

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Woran liegt es eigentlich, dass gerade Goethe bei jeder Gelegenheit zitiert wird, wo es doch genügend andere Literaten gibt? Die Ausdruckskraft der Sprache allein kann es nicht sein, die haben andere auch. Offensichtlich gelingt ihm der individuelle Zugang zu jedem einzelnen besonders gut. Das setzt voraus, dass er das Menschliche gut kennt und Goethe war dessen Meister, nichts Menschliches war ihm, dem alten Schwerenöter, fremd. Dazu befähigte ihn ein hohes Maß an Realismus, was wohl seinen spezifischen Genius ausmacht: ein inbrünstiger, realistischer Künstler mit starken Neigungen zur Wissenschaft. Er ist ein scharfer Beobachter, so erkennt und beschreibt Goethe bereits die Evolution im Pflanzen- und Tierreich [12]. Aber er sieht die Dinge mit den Augen des Künstlers. So ist seine Kritik an der wissenschaftlichen Methode zu verstehen, die auch den Wissenschaftler nachdenklich stimmen sollte und die Goethe in seiner Farbenlehre formuliert hat [13]:

»Wir halten den in der Naturforschung begangenen Fehler für sehr groß, dass man ein abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle, das Urphänomen an die niedere Stelle setzt«.

Goethe kann man nicht verlassen, ohne wenigstens ein ganz kurzes Gedicht gebracht zu haben, das den Gelehrten-Künstler besser verstehen lässt, als alle Erklärungsversuche:

»Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr geseh´n
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön«

Und nun zu den genialen Erfindungen, die die Welt unserer Zeit am folgenreichsten prägten: die Motoren. Sie sind Grundlage für alle industriellen Antriebe, Transport und Verkehr, und damit wiederum für die heutige Mobilität der Menschen.

Nicolaus August Otto [14],
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ein Handlungsreisender in Köln, entwickelte den Gasmotor durch Verdichtung und magnetelektrische Abreißzündung zur sicheren Viertaktmaschine und gründete die Gasmotorenfabrik Deutz AG bei Köln. Als das Geschäft gut lief, kam auch gleich der juristische Gegenschlag. In zahlreichen Patentprozessen wurden Ottos Rechte bekämpft und fast völlig vernichtet.

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Rudolf Diesel [15]

13-Rudolf-Diesel-DBP_1958_284_Rudolf_Diesel.2kam während einer Vorlesung bei Linde über Thermodynamik auf sein erfinderisches Ziel: Höherer Wirkungsgrad durch höheres Wärmegefälle; die gleichzeitige Druckerhöhung des Kraftstoff/Luft-Gemisches bewirkt Selbstzündung.
Der Dieselmotor trat seinen Siegeszug an. Auch Diesel wurde gnadenlos mit Patentprozessen zugedeckt. Den heftigen Angriffen entzog er sich durch Freitod. Während einer Fahrt nach England ertrank er im Ärmelkanal.
Zwei weitere, die Jetztzeit prägenden revolutionären Erfindungen waren die schnelle Datenübertragung und die Erzeugung von Starkstrom, welche die gesamte Elektrotechnik erst ermöglichten.

Werner von Siemens (1816-1892)

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Nach gründlicher naturwissenschaftlich-technischer Ausbildung beim Militär und langjähriger Tätigkeit dort, wo er es zum Artillerie-Leutnant brachte, erkannte Siemens [16] den einträglichen Zukunftsmarkt der Telegraphie, d.h., die schnelle Datenübermittlung. Er baute, zusammen mit seinen Brüdern, die preußischen und russischen Telegraphenlinien, mit seiner englischen Firma die Linie London-Teheran-Kalkutta und legte nach dem amerikanischen Bürgerkrieg das erste Transatlantik-Kabel von Irland nach Amerika. Siemens erfand den Zeigertelegraphen.
Seine größte und folgenreichste Erfindung war wohl die Dynamomaschine nach dem elektrodynamischen Prinzip. Damit erst war wirtschaftliche Starkstromtechnik, d.h. elektrischer Strom als Energieträger, möglich. In Berlin präsentierte er die erste elektrische Bahn.
Im Patentwesen bewies er eine geschicktere Hand als Otto und Diesel: Das erste deutsche Patentgesetz wurde auf der Grundlage seiner Vorschläge geschaffen. Siemens war als erster Ingenieur Mitglied der von Leibniz begründeten Preußischen Akademie der Wissenschaften.

Tesla Drehstrom-Asynchron-Motor, 3 kW, 1888
Jacobi-Motor, 300W, 1834

Albert Einstein (1879-1955)

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Mitten im I. Weltkrieg, während der gewaltigen Materialschlachten, fand Einstein [17] mit den Grundgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie tief verborgene kosmische Harmonien: »Ich glaube an einen Gott, der sich in der Harmonie des Seienden offenbart«. Damit beschrieb er haargenau die prästabilierte Harmonie der Monaden in der Philosophie von Leibniz und führte nach 200 Jahren diese Denkrichtung weiter.
Im preußischen Kulturbetrieb war man flexibel genug, passende Berufungszusagen für den unkonventionellen Individualisten Einstein zu realisieren. Neben der Professur an der Universität war er Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Außerdem war er von jeglicher Vorlesungsverpflichtung freigestellt.
Zur Quantenmechanik Heisenbergs äußerte er sich wie folgt: »Heisenberg hat ein großes Quanten-Ei gelegt. In Göttingen glauben sie daran (ich nicht!)«. Einstein griff dann nach den Sternen; er versuchte sich an der einheitlichen Feldtheorie, welche die physikalischen Teilbereiche Gravitation, Elektromagnetismus und, in neuerer Zeit, starke und schwache Wechselwirkungen unter einen Hut bringen soll. Dies ist bis heute noch nicht gelungen, Stephen Hawking arbeitet zur Zeit intensiv daran.
Einsteins Aktivitäten in der Politik waren in sich selbst stark polarisierend: langjährig setzte er sich für Pazifismus ein, forderte später Präsident Roosevelt zum Bau der Atombombe auf, um danach, noch vor deren Einsatz, gegen den Atomkrieg zu demonstrieren. Möglicherweise war er aber gar nicht so widersprüchlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man könnte Einstein auch als Vordenker der nuklearen Abschreckungsstrategie ansehen. Jedenfalls geriet er durch seine politischen Aktivitäten in Bedrängnis: Seine Ermordung war geplant, die nachweisliche Anstiftung dazu wurde von der Justiz mit 6 $ Geldstrafe geahndet [18] – das war wohl der gesellschaftliche Wert eines Genies. Einsteins eigene Einschätzung seiner politischen Tätigkeiten in späteren Jahren: »Gleichungen sind wichtiger für mich, weil die Politik für die Gegenwart ist, aber eine Gleichung für die Ewigkeit«.17-Lise_Meitner12.2
Die aus der Einstein’schen Masse-Energie-Beziehung ganz grundsätzlich herzuleitende Möglichkeit zur Gewinnung riesiger Energiemengen lag nun in der Luft. Der Weg ging über die Kernspaltung. Bezeichnenderweise wurde die erste Kernspaltung nicht von Physikern realisiert, sondern vom Chemiker Otto Hahn. Der Chemiker ist experimentierfreudig, auch wenn er manchmal nicht ganz genau weiß, was er macht; aber meist macht er es intuitiv richtig. Für die Deutung der Theorie war dann auch Hahns langjährige Kollegin, die Atomphysikerin Lise Meitner, zuständig [19].

Justus von Liebig (1803-1873)

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Ein recht deftiger Vertreter der genialen Zunft ist Justus von Liebig. Bedenkenlos steckte er die Einkünfte aus seinen literarischen Arbeiten in seine chemische Forschung, selbst wenn er die dazugehörigen Leistungen noch gar nicht erbracht hatte [20, 21].
Liebig verhindert es ziemlich erfolgreich, eine Silhouette von sich zeichnen zu lassen. Wir wollen es trotzdem versuchen. Nachdem er allen Bemühungen seiner Eltern, Schule oder Lehre zu einem ordentlichen Abschluss zu bringen, höchst erfolgreich widerstanden hatte, quengelte er so lange, bis er, 17-jährig, in Bonn Chemie studieren konnte (das war damals auch ohne Schulabschluss möglich). Der junge Liebig war ein zünftiger Student: Er demonstrierte und randalierte, nach polizeilicher Haussuchung zog er es vor, zu fliehen; sein Lehrer Kastner, der bekannteste deutsche Chemiker dieser Zeit, verschaffte ihm ein Stipendium nach Paris. In Erlangen wurde Liebig in der Zwischenzeit »in absentia« promoviert. Sein Thema:

»Über das Verhältnis der Mineralchemie zur Pflanzenchemie«

Wahrhafte Zukunftsmusik! Auf Vorschlag Alexander von Humboldts wurde er, gegen den Willen der Universität, von der Regierung als Extraordinarius nach Gießen berufen. Dem dortigen Ordinarius, Herrn Zimmermann, entzog er mühelos die Hörer, worauf dieser sein vorzeitiges Ende im Fluss Lahn suchte und fand. Liebigs Großtaten waren:

1) Die Reform des Hochschulunterrichts durch Einführung von Praktika mit vorgegebenen Lernzielen anhand eines Studienplans.

2) Die Elementaranalyse: Aus der bisherigen Kunst machte Liebig Routine.

3) Die Düngetheorie: Die Elementaranalysen von getrockneten Pflanzen und deren Aschen ergaben, dass die Bestandteile letzterer wieder ersetzt werden müssen: Die Idee des Düngers war geboren. Liebig: »Stallmist lässt sich durch mineralische Bestandteile ersetzen«. Wie Recht er hatte, belegen die jährlich 100.000.000 t Stickstoff, die nach dem Haber-Bosch-Verfahren umgesetzt werden. Damit hat Liebig den ökonomischen Durchbruch in der Welternährung geschafft, mithin die agrarische Revolution!

19-Liebig-Bilder-figuritas-liebig-11-12-14-15-cubo4) Einen sozialen Durchbruch ermöglichte Liebig mit seinen Arbeiten über Fleischextrakt, Säuglingsnahrung, Backpulver, Kaffee-Ersatz etc. Insbesondere entlastete er arbeitende Frauen mit Familien durch erheblich reduzierten Aufwand bei der Speisenzubereitung: Die Zeit der Schnellgerichte war angebrochen. Diese Tätigkeiten fasste Liebig in seiner Firma Liebig Company zusammen.

Liebig ist das Genie der chemischen Dimension, er ist gleichzeitig ein genialer Wissenschaftler in Lehre und Forschung, ein genialer, wissenschaftsorientierter Geschäftsmann, ähnlich Siemens, und der Riesenhebel, der mit einfachen Mitteln das damalige Weltproblem Nr. 1, die Ernährung der Menschheit, löst.

So war Liebig trotz oder vielleicht gerade wegen seiner bewegten Jugendjahre ein durch und durch nüchterner Mensch geworden. Er sah klar die Rückkopplung der Leistungen der angewandten auf die reine Wissenschaft; Liebig [22a]:

»Durch die Erfindungen der Menschen in den Gewerben, Industrie, Medizin, Mechanik, Astronomie werden die Tatsachen erworben, welche zur späteren Entwicklung der Wissenschaft unentbehrlich sind.«

Auch Mystifizieren um die Alchemie war ihm fremd; Liebig [22b]:

»Die Alchemie ist niemals etwas anders als Chemie gewesen.«

In einem Kriminalfall rückte er als Sachverständiger durch nüchterne Überlegungen die Wahrheitsfindung zurecht und bewirkte die Änderung einer damals üblichen Rechtspraxis [21b]:
Eine Gräfin v. Görlitz war eines Morgens in ihrem Boudoir tot unter ihrem Sekretär (Schreibtisch) aufgefunden worden. Beide waren verbrannt und teilweise angekohlt. Man beschuldigte den Diener der Gräfin des Mordes. Dessen Verteidigung führte eine damals bewährte Standard-Entlastung ins Feld: Frau v. Görlitz habe stark getrunken, ihr von Alkohol durchtränkter Körper habe sich selbst entzündet und auch noch den Schreibtisch zum Brennen gebracht. Liebig setzte auseinander, dass der menschliche Körper zu 3/4 aus Wasser besteht und deshalb nicht heißer werden kann, als der Siedepunkt des Wassers, wobei diese Temperatur mehrere hundert Grad unter derjenigen liegt, die zum Entzünden von Alkohol nötig ist. Auch kann der Körper nicht brennen, bevor nicht das Wasser daraus verdampft ist. Dies wiederum kann ohne Wärmezufuhr von außen nicht geschehen – also handelte es sich zweifelsfrei um Mord, die Gräfin war vor den Augen ihres Sekretärs eingeschlafen und dann im Schlaf verbrannt worden.

Augenzeuge im Prozess war der Architekturstudent August Kekulé, der von Liebig so fasziniert war, dass er sich dem Chemiestudium zuwandte.

20-kek_aff.1Kleine Theorie über das Genie

Was macht nun eigentlich ein Genie aus?
Es ist wohl einfacher, man nähert sich der Frage von Seiten der Kunst her:

Der wahre Künstler setzt Gedanken.

Diese Aussage beinhaltet gleich zwei Haupteigenschaften des Genies:  Einmal muss es eine hochkarätige Idee haben, doch die haben einige andere auch; zum anderen muss es diese Idee artikulieren und durchsetzen können und, falls dies nicht möglich ist, doch wenigstens in eine solche Form bringen, dass sie irgendwann einmal wieder aufleben kann. (Erinnern wir uns an Leonardos Erfindungen, die zum Teil erst Jahrhunderte später realisiert wurden. Ähnlich erging es Leibniz’ Monadologie und Bachs Musik). Schon sind wir auf die dritte und wichtigste Eigenschaft des Genies gestoßen – das Attribut zukunftsweisend. Erst mit der weitsichtigen Idee, dem schöpferischen Akt, setzt das Genie sich vom Hochbegabten, vom Talent ab. Das Talent ersetzt das Genie durch perfektioniertes Mittelmaß.

Dadurch, dass das Genie zukunftsweisend ist, grenzt es sich quasi automatisch von den anderen aus, da alles Zukunftsweisende unbegreiflich und unbequem ist und vom Nichtgenialen als unwichtig bis unsinnig, jedenfalls als überflüssig abgetan wird, wohl deshalb, weil er sich nicht damit beschäftigen will oder auch gar nicht kann, da er die zukunftsweisende Idee nicht zu verstehen vermag. In diesem Fall entsteht zusätzlich auch noch Aggression: Der Nichtgeniale unterstellt dem Genie Inkompetenz, deshalb lebt es sich als Genie höchst ungemütlich.

Logischerweise kann eine nicht systemimmanente Idee nicht systemimmanent geäußert werden: Das Genie wird meist gezwungen, seine Ideen gegen die Fachwelt durchzusetzen, was unkonventioneller Methoden bedarf. Dieser Nonkonformismus, an dem man Genies so leicht erkennen kann, ist also keine Schrulle, sondern notwendige Lebens-Strategie. Eine weitere Haupteigenschaft ergibt sich jetzt fast von selbst, Genies sind äußerst vielseitig, sie setzen sich mehrere Ziele, an denen sie gleichzeitig arbeiten. Das Gesagte gilt für Künstler und Wissenschaftler gleichermaßen. Was nun unterscheidet sie eigentlich? Es ist die Methode, die Art, die Dinge zu begreifen und auszudrücken:

Der Künstler sieht das Ganze, der Wissenschaftler die Teile.

Bei Goethe hatten wir schon die Kritik des Künstlers an der wissenschaftlichen Methode kennengelernt, die Gesamtschau hintan zu stellen [13]. Dagegen macht der Wissenschaftler Liebig die Fähigkeit eines Beobachters geradezu davon abhängig, im Ganzen die Teile zu sehen [21a].

»In diesem Sinne halten wir den in der Naturforschung begangenen Fehler für sehr groß, dass man ein abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle, das Urphänomen an die niedere Stelle setzte, ja sogar das abgeleitete Phänomen wieder auf den Kopf stellte und an ihm das Zusammengesetzte für ein Einfaches, das Einfache für ein Zusammengesetztes gelten ließ; durch welches Hinterstzuvörderst die wunderlichsten Verwicklungen und Verwirrungen in die Naturlehre gekommen sind, an welchen sie noch leidet.«

J.W. v. Goethe

»Es gibt keine Kunst, welche so schwierig ist wie die Kunst der Beobachtung; es gehört dazu ein gebildeter nüchterner Geist und eine wohlgeschulte Erfahrung, welche nur durch Übung erworben wird; denn nicht der ist der Beobachter, welcher das Ding vor sich mit seinen Augen sieht, sondern der, welcher sieht, aus welchen Teilen das Ding besteht und in welchem Zusammenhang die Teile mit dem Ganzen stehen.«

J. v. Liebig

Die Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis geschieht in logischen Schritten, also verstehbaren Teilen des Gesamtphänomens. Dagegen will die Kunst das Gesamtphänomen sozusagen auf einen Schlag vermitteln. Die rein verstandesmäßige Aufnahmefähigkeit des Menschen ist damit allerdings hoffnungslos überfordert, der Mensch besitzt aber in seinen Sinnen Möglichkeiten der Wahrnehmung, die weitaus komprimiertere Informationspakete spielend verarbeiten können und welcher sich die Kunst zur Vermittlung ihrer Botschaften bedient.

Literatur

[1] Hans Heinrich Eggebrecht, Johann Sebastian Bach, in: Die Großen, Bd. VI/1; Hrsg. Kurt Faßmann, Kindler Verlag, Zürich, 1977, S. 394.
[2] Gertrud Loos, Temperierte Stimmung, – ein musikalischer Kompromiß, Beilage zur Schallplatte »Das Wohltemperierte Klavier Erster Teil«, Odeon, Best. Nr. O80605S.
[3] Ludwig H. Heydenreich, Bern Dibner, Ladislao Reti, Leonardo der Erfinder, Belser Verlag, Stuttgart, Zürich, 1987; a) S. 122; b) S. 162.
[4] Carlo Zammattio, Augusto Marinoni, Anna Maria Brizio, Leonardo der Forscher, Belser Verlag, Stuttgart, Zürich, 1987, S. 154.
[5] Gerhard Kropp, Philosophie, Verlag Lebendigen Wissens (Humboldt Taschenbücher), München, 2. Aufl.; a) S. 69; b) S. 72; c) S.70.
[6] E. Hugo Fischer, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Die Großen, Bd. VI/1, Hrsg. Kurt Faßmann, Kindler Verlag, Zürich, 1977; a) S. 223; b) S. 221; c) S. 225.
[7] Großes Handbuch der Mathematik, Hrsg. W. Gellert, H. Küstner, M. Hellwich, H. Küstner, Buch und Zeit Verlagsges., Köln, 1970; a) S. 414; b) S. 456; c) S. 678, 778.
[8] Knaurs großes Buch der Mathematik, Hrsg. Richard Knerr, Lexikographisches Institut, München, 1989; a) S. 130; b) S. 576.
[9] Friedrich Heer, Gottfried Wilhelm Leibniz, Fischer Bücherei, Frankfurt, Hamburg, 1958; a) S. 130; b) S. 7.
[10] Hans Heinz Holz, Leibniz, Verlag W. Kohlhammer (Urban Bücher), Stuttgart, 1958, S. 29.
[11] Karl Vorländer, Philosophie der Neuzeit (in rowohlts deutscher enzyklopädie), Rowohlt, Hamburg, 1966, S. 76.
[12] Leo Krell, Leonhard Fiedler, Deutsche Literaturgeschichte, Buchners Verlag, Bamberg, 1962, S. 182.
[13] Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, Zweite Abteilung, Physische Farben, Kapitel 176.
[14] Gustav Goldbeck, Nikolaus August Otto, in: Die Großen, Bd. VIII/2; Hrsg. Kurt Faßmann, Kindler Verlag, Zürich, 1977, S. 582-595.
[15] Kurt Schnauffer, Rudolf Diesel, ibid, Bd. IX/1, S. 344-363.
[16] Sigfrid von Weiher, Werner von Siemens, ibid, Bd. VIII/1, S. 174-185.
[17] Armin Hermann, Albert Einstein, ibid, Bd. XI/1, S. 14-33.
[18] Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1988, S. 220.
[19] Ausstellung »Lise Meitner, Leben und Werk einer Atomphysikerin« im Lise-Meitner-Gymnasium Böblingen, 23.3.-3.4.1987.
[20] Otto Krätz, Justus Liebig, in: Die Großen, Bd. VII/2; Hrsg. Kurt Faßmann, Kindler Verlag, Zürich, 1977, S. 692-707.
[21] Jacob Volhard, Justus von Liebig, Bd. I, Verlag Johann Ambrosius Barth, Leipzig, 1909; a) S. 382; b) S. 177-179.
[22] Wilhelm Strube, Der historische Weg der Chemie, VEB Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig, 1976; a) S. 109; b) S. 82.